BIOGRAPHIE

Heike Brachlow


Heike Brachlow (geb. 1970 in München, Deutschland) führten Reisen durch die ganze Welt, bis nach Neuseeland, wo sie als Raftingguide und Kajaklehrerin arbeitete. Als sie hier im Jahr 2000 eine Studioglaswerkstatt kennen lernte, war sie von der Unmittelbarkeit des Arbeitsprozesses mit dem glühenden Glas und der Ausstrahlung transparenter Glasfarben im durchscheinenden Licht fasziniert. Sie begann, das Glasblasen zu erlernen, stellte aber bald fest, dass es weiterer gezielter Ausbildungsschritte bedurfte, um sich technisch zu verbessern und eigene Entwürfe zu entwickeln.

Die Suche nach geeigneten Hochschulen endete in England. An der Universtity of Wolverhampton befasste sie sich von 2002 bis 2004 zunächst mit dem Glasblasen. Hier entdeckte sie aber auch die Arbeit mit formgeschmolzenem Glas, das ihren Interessen an geometrischen Formen und scharfen Kanten viel mehr entsprach als das geblasene Glas, das im Arbeitsprozess immer zum Runden strebt. Aus dieser Zeit stammen dickwandige, kugelige Schalen, mal geblasen, zum Teil mit stark gewölbtem Deckel, mal in verschiedenen Größen formgeschmolzen und bisweilen ineinandergestellt. Diese Schalen eröffneten Brachlow zwei neue, grundlegende Perspektiven für das weitere Werk: Die Arbeit mit Farbe unterscheidet sich zwischen dem geblasenen und dem formgeschmolzenen Glas erheblich. Das geblasene Glas hat zumeist eine geringe, durch den Produktionsprozess recht gleichmäßige Wandstärke, was zu einem homogenen Farbeindruck führt. Massives formgeschmolzenes Glas kann erheblich größere Volumendurchmesser erreichen. Bei unterschiedlichen Wandstärken, sei es durch eine konkrete Formgebung oder zu den Kanten hin, kommt es entsprechend der variierenden Farbdichte zu subtilen Abstufungen eines einzigen Farbtons, die von Lichthell bis fast ins Schwarze reichen können. Das hat Brachlows Zugang zu Farbe völlig verändert, die seitdem fast ausschließlich mit den Farbdifferenzierungen formgeschmolzenen Glases arbeitet. Der zweite Aspekt betrifft die Bewegung. Der Boden der Schalen ist nicht abgeflacht. Sie haben keinen Stand. Werden sie berührt, geraten sie leicht in Bewegung. Das ist etwas Unerwartetes, bisweilen Verstörendes, weil man es gewohnt ist, dass Objekte aus dem fragilen Material Glas einen festen Stand besitzen. „Als ich das realisierte und erkannte, was es bedeutet, habe ich mich dazu entschieden, einen Fokus auf die Spannung zwischen dem Betrachter/Akteur und großen, schweren und prekären Glasobjekte zu setzen. […] Die physische Präsenz eines Objekts, betont durch Bewegung.“

Nach dem Bachelorstudium in Wolverhampton ging Brachlow nach London, um am Royal College of Art von 2004 bis 2006 erst ein Masterstudium und danach eine Dissertation anzuschließen. Ihre Arbeit entwickelte sie dabei in Werkgruppen, in denen sie ihre Themen logisch Schritt für Schritt voranbrachte. Die „Movement“-Serie besteht aus jeweils zwei massiven Glaszylindern, deren untere Kante konisch zuläuft. So stehen die Gebilde leicht schräg und können durch einen kleinen Anschub in eine Drehbewegung versetzt werden. Das Ereignis des sich drehenden massiven Glaskörpers erfährt eine Steigerung, wenn sich beide Körper nah beieinander bewegen und die Möglichkeit einer Kollision besteht. In der „Waiting“-Serie steht ein schlanker und hoher Zylinder auf einem zweiten. Die obere Kante des unteren Zylinders ist leicht konkav eingestülpt, der untere Abschluss des oberen läuft konisch zu, so dass er sich leicht drehen kann. Atemberaubend ist das Erkunden der Kraft, mit der der obere Zylinder in eine Drehbewegung versetzt werden kann, ohne aus seiner Pfanne zu laufen. Die Arbeiten der vergleichbaren „On Reflection“-Serie sind breiter, dafür aber nicht so hoch. Und die „Careful“-Serie besteht aus hohen Kegeln mit einer konischen Basis. Mittels der Größenrelation zwischen den einzelnen Arbeiten und den variierenden Wandstärken der konisch zulaufenden Körper werden Farbwirkungen erkundet.

Ein Problem, wie Brachlow in ihrer Dissertation schreibt, besteht bei Formschmelztechniken darin, dass oft genug Farbglas genutzt werden muss, dass eigentlich für das Glasblasen produziert wurde und dort meist in dünnen Schichten zwischen farblosem Glas eingebracht wird. Schon bei wenigen Zentimetern Dicke erscheinen diese Farben bei formgeschmolzenen Arbeiten sehr dunkel und entsprechen nicht mehr dem gewünschten Farbton. Etablierte Künstler können bei den wenigen spezialisierten Farbglasproduzenten weltweit, wie Banas in Tschechien oder Bullseye in den USA, spezielle Farben entwickeln lassen. Für junge Künstler ist das aber in der Regel in Anbetracht von Mindestabnahmemengen nicht finanzierbar. Als ein Kernanliegen ihrer Dissertation entwickelte Brachlow ein Verfahren, mit dem kleinere Mengen von Farbglas in Brennöfen produziert werden können. Dazu versetzt sie Fritte, ein Rohglas, mit färbenden Metalloxiden. In einem ersten Ofengang wird das Farbglas erschmolzen, das in einem zweiten Ofengang in eine Form läuft. Im Dissertationsprojekt basiert diese Form auf einem Kubus mit einer in verschiedenen Richtungen schräg zulaufenden Aussparung, so dass verschiedene Dick-Dünn-Variationen entstehen und das Farbmuster in verschiedenen Tonabstufungen beurteilt werden kann. Zahlreiche Musterreihen hat sie produziert, indem sie einer gleichbleibenden Menge Fritte variierende Mengen eines Oxids oder einer Mischung unterschiedlicher Oxide zusetzte. Ihre Ergebnisse sind reproduzierbar und veröffentlicht, so dass andere Künstler darauf zurückgreifen können. Im Glasstudio des Corning Museum of Glass unterrichtet Brachlow regelmäßig Formschmelztechnik und die Produktion von Glasfarben.

Das zweite Anliegen der Dissertation war die Entwicklung einer neuen Werkgruppe. Die entstand aus der Auswahl von Farbmusterwürfeln, die sie zu Farbreihen neu zusammenstellte und zu Türmen stapelte, deren Überlappungen in der Durchsicht immer wieder zu neuen Farbmischungen führen. Die „fertigen“ Werke dieser „Theme and Variation“-Serie besteht aus der jeweiligen Auswahl zumeist loser Würfel und einem Foto, das Brachlows Vorstellung vom Aufbau zeigt. Den Eigentümern ist es aber überlassen, auch andere Varianten auszuprobieren. Zu den Farbexperimenten des Dissertationsprojekts gehörte auch die Arbeit mit Seltenen Erden, vor allem mit Neodymoxid. Dieses Metall bewirkt bei Einstrahlung der unterschiedlichen Wellen variierender Lichtquellen wie Tageslicht, Glühlampen oder fluoreszierendem Licht einen völligen Farbwechsel, z.B. von Rosa zu Grün. Damit ist dem Werk eine weitere Ebene der Veränderung, der Transformation, hinzugefügt.

Der Gewinn des Jerwood-Makers-Preis ermöglichte Brachlow 2011 die Realisierung der Serie „Six Impossible Things“: abstrakt geometrische Formen, wie sie für die Künstlerin typisch sind, die an einem einzigen Punkt lose auf Metallständern aufgelegt und so ausbalanciert sind, dass sie in Bewegung versetzt werden können. Die „Theme and Variation“-Serie fand eine Weiterentwicklung in der „Column“-Serie und in der seit 2012 stetig weitergeführten „Synthesis“-Serie, in denen unterschiedliche Farbblöcke in Verbindung miteinander gesetzt werden. Seit 2015 entstehen zudem die Arbeiten der „d-Form“-Serie. Sie gehen zurück auf eine Erfindung des Londoner Designers Tony Wills: Zwei unterschiedliche Formen mit gleichem Durchmesser oder Umfang, z.B. ein Kreis und ein Rechteck, werden übereinander gelegt und die Kanten miteinander verbunden. Brachlow variiert dieses Vorgehen, indem sie in die Basisformen Löcher schneidet, sie an ihren Innenkanten verbindet und den Außenraum füllt. Es entsteht eine komplexe wellige, toroide Form, die dem Möbius-Band ähnelt, ihm gegenüber aber unvorhersehbare Konturwechsel aufweist. Die Arbeiten sind wieder so ausbalanciert und aufgestellt, dass sie in Bewegung versetzt werden können. Sie erscheinen massiv und gleichzeitig fast schwerelos.

Bewegung und Transformation sind die zentralen Begriffe zur Erschließung des Werks von Heike Brachlow. Weitere sind: Farbe, die Schönheit geometrischer Grundformen und ihrer Ableitungen sowie ein spielerischer Zugang, der die Betrachter zu Akteuren macht. Es geht um den Übergang von einem Zustand zu einem anderen. Klare, transparente Farben verändern mit der Wandstärke der formgeschmolzenenen Arbeiten ihren Farbton. Polychromatisch gefärbtes Glas wechselt bei der Nutzung verschiedener Lichtquellen völlig seine Farbe, als hätte man unterschiedliche Objekte vor sich. Viele von Brachlows Arbeiten können und sollen durch die Betrachter in Bewegung versetzt werden: Sie pendeln hin und her, sie schwingen vor und zurück, drehen sich um die eigene Achse, dass einem Angst und Bange wird um die physische Integrität der anscheinend kurz vor dem Absturz oder Zusammenprall befindlichen Kunstwerke. Oft kommen sie in einer anderen Position zur Ruhe, als der, aus der sie aktiviert wurden. Bauelemente können zu Farbreihen oder Türmen angeordnet werden: Bei den wechselnden Zusammenstellungen entstehen immer wieder neue Überlappungen der einzelnen Farben und damit in der Durchsicht neue Farbmischungen. So wie die Rolle des üblicherweise passiven Betrachters in einen Akteur überführt ist, um die ganze Vielschichtigkeit der Arbeiten erlebbar werden zu lassen, ist auch Brachlows eigene Rolle vielschichtig. Sie wechselt zwischen der künstlerischen Arbeit und dem Erforschen ihres Materials. Auf diese Weise hat sie das Vokabular des formgeschmolzenen Glases erweitert (Jeffrey Sarmiento) und in einem immer enger werdenden Arbeitsbereich eine herausragende, eigenständige Formensprache entwickeln können. In der Ausstellung „Chaos Theory“, die 2016 ihre Arbeit insgesamt vorstellt, vor allem aber die Skulpturen der „d-Form“-Serie, gibt Brachlow einen Hinweis, wie ihre Kunst gesehen werden kann: „Chaos ist nicht einfach nur Unordnung. Die Chaos Theorie erforscht die Übergänge zwischen Ordnung und Unordnung, die oft auf überraschende Weise zutage treten.“ Die hochgradige Ästhetik ihrer Sulpturen wird hier in Verbindung gebracht mit der Schönheit eines Gedankens, der sowohl in den Naturwissenschaften als auch in der Philosophie Relevanz entfaltet hat. Ordnung und Unordnung gibt es in jedem Moment in unser aller Leben. Heike Brachlows Skulpturen können entsprechend auch als eine Einladung verstanden werden, die alltägliche Erfahrung von Ordnung und Unordnung, von Balance, Kontrast und Übergängen, von Bewegung und Transformation spielerisch und als etwas Schönes wahrzunehmen.
Uwe Claassen

Skulptur: Nexus

Achilles-Stiftung