Markéta Šílená (geb. 1957 in Semily, Tschechoslowakei) wollte nach der Schule einen künstlerischen Beruf ergreifen. Was lag da näher, als eine Ausbildung an der im nah gelegenen Železný Brod befindlichen Glasfachschule zu beginnen. Von 1972 bis 1976 besuchte sie die Klasse für Glasschmuck. Aufgrund ihres Talents konnte sie im Anschluss nach Prag wechseln und an der Hochschule für Angewandte Kunst studieren. In der Glasklasse von Stanislav Libenský durchlief sie bis 1982 das damals übliche, breite Kurrikulum: Malen und Zeichnen, Skulptur, Entwurf für Gebrauchsglas und architekturbezogene Arbeiten. Auch ihrem Interesse am Schmuck konnte sie hier weiter nachgehen. Nach dem Studium arbeitete Šílená eine Zeit lang frei, schuf Skulpturen, gestaltete Schmuck und entwarf auch Gebrauchsglas für OBAS in Teplice und für Železnobrodské sklo. 1984 ging sie zurück an die Glasfachschule in Železný Brod, wo sie unterrichtete und die Abteilung für Gravur leitete. In einem Interview beschreibt Šílená, wie sie Kollegen, die die Tätigkeit an der Schule und die Arbeit am eigenen künstlerischen Werk gut miteinander verbinden konnten, bewunderte. 1988 quittierte sie den Schuldienst und arbeitet seitdem frei. „Vielleicht kehre ich eines Tages zurück, jetzt aber brauche ich alle meine Sinne für mich selber“ (Šílená in Zámisová 2004: 4). Die beiden wesentlichen Arbeitsbereiche von Markéta Šílená sind Schmuck und freie Skulpturen. Sie genießt es, zwischen den Bereichen wechseln zu können, betont aber gleichzeitig, dass sie miteinander verbunden sind, sich gegenseitig beeinflussen und aus den gleichen Prinzipien erwachsen. Formal gilt ihr Interesse der Kombination von Metall und Glas und von räumlichen und proportionalen Beziehungen, die sie in abstrakter Schlichtheit und Sachlichkeit miteinander in Beziehung setzt. Die typischerweise asymmetrischen Schmuckstücke, mit denen sie die „Grenzen des Tragbaren erreicht“ (Anonym 1991: 40), werden immer wieder als „singuläre Kunstwerke“ oder „kleine künstlerische Skulpturen“ gesehen (z.B. Maršíkova 2008: 30). Šílená selber sieht sie zwar als räumliche Studien, möchte den Begriff der „kleinen Skulptur“ aber nicht verwenden: Beim Schmuck spielt die Verbindung zur Person, die ihn trägt, eine große Rolle, ganz anders als beim Betrachten einer Skulptur, die frei im Raum steht (nach Zámišová 2004: 4). Im Bereich der Skulptur ging Šílená immer mehr von geschliffenen und geschnittenen Gläsern, wie sie sie in kleinerem Maßstab auch für ihren Schmuck einsetzt, über zu Formschmelztechniken. Seit vielen Jahren liegt hier einer ihrer Arbeitsschwerpunkte. Inspiration kann Šílená in allem finden, was um sie herum geschieht: „In Menschen, Natur, Musik, Geschichte, aber auch das Glas selber ist eine permanente Inspirationsquelle“ (Šílená in Zámišová 2004: 6). Landschaften werden so zu einem Thema, wie “Nava Landscape” von 2002 oder „Weites Land“ von 2007. Immer wieder gibt es formgeschmolzene Glasplatten, die in Metallständern hochkant stehen. Die Oberflächen sind schrundig rau und mattiert, sie wirken wie erodiert. Die Ränder fasern aus. Durchbrüche oder Aussparungen deuten Symbole und rudimentäre Schriftzeichen an. Die Titel der Arbeiten verweisen auf Briefe, auf die Zehn Gebote oder geschichtliche Themen. Überlieferungen von Ereignissen und Erfahrungen sind hier angesprochen und die Schwierigkeit, sie angemessen zu rezipieren. Fragmentarisch und aus ihrem Zusammenhang gerissen sind diese Dokumente zwar sinnlich wahrnehmbar – doch bleiben sie letzten Endes nur schwer und unvollständig nachvollziehbar oder bleiben in ihrer gesamten Komplexität sogar unverständlich. Erkennbar ist eine Oberfläche, deren Tiefendimension nur erahnt werden kann. Diese Thematik verfolgt Šílená auch mit einer weiteren Werkgruppe: Zwei Glaselemente stehen hintereinander. Die Ansichtsseite besteht aus einem farblosen oder nur leicht getönten Glas mit schrundiger, mattierter Oberfläche, die das dahinter Liegende nur schemenhaft erkennbar werden lässt. Mit einigen Zentimetern Abstand steht dahinter meist ein intensiv farbiges, stark profiliertes Glas. Durch die variierenden Durchmesser entstehen in diesem hinteren Glas Farbverläufe eines einzigen Grundtons. Ist die Skulptur hinterleuchtet, bildet sich der farbige Teil auf dem vorderen ab. Seine eigentlich scharfen Umrisse verschwimmen dabei wie bei einem unscharfen Dia. Bei „Blue Vista“ schieben sich so zwei Landschaftseindrücke übereinander und es entsteht etwas Drittes. In „Scattered Square“, dem „verstreuten Quadrat“ von 2004 setzt Šílená runde und eckige sowie scharfe und unscharfe Formen im Farbkontrast von rot und schwarz gegeneinander. „Silent Water“, stilles Wasser, heißt eine Arbeit, und man möchte beim Betrachten nach der sprichwörtlichen Redensart ergänzen: Stilles Wasser ist unergründlich tief. Nebenbei bemerkt: Nur mit dem transparenten Material Glas sind solche Skulpturen möglich. Eine weitere Spielart dieses Grundgedankens ist in „Hidden Focus“ (2018) zu sehen. Eine glatt polierte Oberfläche steigt schräg an und erlaubt den Einblick in das gläserne Volumen, bis auf die schrundige und von Furchen durchzogene Rückseite. Je höher die Fläche ansteigt, desto dunkler wird der blau-grüne Farbton des Glases. War er zu Beginn noch fast Lichthell, so wird er immer undurchdringlicher, bis man nicht mehr hindurchsehen kann. In diesem Bereich liegt in der glatten Oberfläche eine doppelt angesetzte Vertiefung, in der sich eine Kugel aus dem gleichen Material befindet. Es ist der „versteckte Fokus“, der Kern einer Sache. Er besteht aus dem gleich Material wie der Kontext, aus dem er stammt und den er nun repräsentierten soll. Je länger man die Arbeit betrachtet, desto stärker wird die Frage, was mit diesem Fokus geschehen wird: Sinkt er wieder hinab in die unergründliche dunkle Tiefe? Oder löst er sich von seinem Kontext und beginnt ein Eigenleben? Auch hier geht es wieder um die Fragen und Unschärfen, die bei der Verarbeitung und Interpretation unserer Wahrnehmungen entsteht. Dieses Nichtfassbar-Tiefgründige ist das eigentliche Hauptthema im Werk von Markéta Šílená. Sie selbst formuliert es kurz und bündig so: „Ich interessiere mich für geheimnisvolle Dinge, die bis zum Ende unausgesprochen bleiben“ (nach Stölting 2003: o.S.). Uwe Claassen
Literatur:
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