BIOGRAPHIE

Orrefors


Orrefors Glasbruk (gegründet 1898 in Orrefors, Schweden) stellte zunächst einfaches Gebrauchs- und Fensterglas her. Nach einem Besitzerwechsel 1913 begann ein Aufschwung, der den Namen Orrefors zeitweilig an die Spitze des Europäischen Glases brachte. Der neue Eigentümer Konsul Johan Ekman und sein Geschäftsführer Albert Ahlin beschlossen, in die Produktion von Kunstglas einzusteigen. Der erste Schritt war das Abwerben hervorragender Glasbläser und Schleifer von der nah gelegenen Kosta-Glashütte. Die ersten Erzeugnisse orientierten sich stark an dem damals führenden Jugendstilglas aus Frankreich. 1916 wurde der Maler Simon Gate eingestellt, von dessen Entwürfen man sich die Entwicklung einer eigenständigen Produktion versprach. Der internationale Durchbruch gelang Orrefors 1925 auf der Kunstgewerbeausstellung in Paris mit historisierenden geschnittenen Gläsern nach böhmischem Vorbild, die einer in ganz Europa verbreiteten restaurativen Tendenz entgegenkamen.

Nach der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der 1930er Jahre änderten sich der Geschmack der Kundschaft und die Gestaltungskriterien. Das Material Glas wurde nun anders begriffen. Es galt nun weniger als neutraler Untergrund für ein zumeist geschnittenes Dekor, sondern wurde als eigenwertiger Stoff begriffen, dessen Masse der entscheidende Gestaltungsträger ist. Die spezifischen Eigenschaften des Materials und seine Funktionalität wurden in den Vordergrund gerückt. Die Gläser wurden dickwandiger und Farbe erhielt eine große Bedeutung zugewiesen. In dieser Entwicklung ging Orrefors Europa voraus und begründete damit seinen bedeutenden Ruf. Ins Zentrum der Kunstglasproduktion rückten die Graal-Gläser.

Edward Hald (geb. 1883 in Stockholm, Schweden – 1980) war bereits 1917, nach einem Architekturstudium in Stockholm und Dresden sowie einem Kunststudium in Stockholm und Paris (bei Matisse) als künstlerischer Mitarbeiter zu Orrefors gekommen. 1933 bis 1944 war er Betriebsdirektor und bis in die 1970er Jahre bleib er dem Unternehmen als künstlerischer Mitarbeiter treu.

In den Jahren vor 1920 experimentierte der Glasbläser Knut Bergkvist in Orrefors mit dickwandigen Überfanggläsern, die in kaltem Zustand durch Ätzen, Schleifen oder Sandstrahlen dekoriert wurden, um anschließend wieder erwärmt, meist mit farblosem Glas überstochen, ihre eigentliche Form erhielten. Wohl ohne Kenntnis davon, dass diese Arbeitsweise bereits in den 1880er Jahren in Frankreich entwickelt worden war, ging Bergkvist von einer Eigenentwicklung aus, die er in Anlehnung an die Legende vom Heiligen Gral „Graal-Technik“ nannte. Erst in den 1930er Jahren rückte diese Technik in den Vordergrund. Edward Halds Entwürfe von Fisch-Graal Vasen seit 1937, über Jahrzehnte hinweg variantenreich in großer Anzahl produziert, stehen am Beginn dieser Entwicklung.

Sven Palmquist (geb. 1906 in Lenhovda, Schweden – 1984) , der von 1927 bis 1930 die Gravurschule in Orrefors besuchte und in den 1930er Jahren an der Kunsthochschule in Stockholm und an der Académie Ranson in Paris studierte, war seit den 1930er Jahren bis 1972 als Designer für Orrefors tätig. Im Bereich der Graal-Arbeiten prägte er zwei berühmte Serien. Seit 1944 entstanden die „Kraka“-Vasen. Der gelb und blau überfangene Rohling ist mit einem Draht- oder Kunststoffgeflecht abgedeckt gesandstrahlt. So entstehen Vertiefungen, in denen die untere Farbschicht freigelegt ist und ein Netzmuster aus den erhalten gebliebenen Stegen der oberen Farbe. Beim Überfangen mit farblosem Glas kann die Luft aus den Vertiefungen nicht mehr vollständig entweichen, so dass sich in jeder Vertiefung eine kleine Blase bildet. Der Name spielt auf die Sage von Kraka aus der nordischen Mythologie an: Die schöne Kraka sollte vor Ragnar erscheinen und zwar weder nackt noch angezogen, worauf sie sich in ein Fischernetz hüllte. Die „Ravenna“-Gläser sind durch byzantinische Mosaiken inspiriert, die Palmquist in der Nachkriegszeit bei einer Italienreise gesehen hatte. Ravenna ist ein Zentrum der Mosaikkunst, deren Erzeugnisse die frühchristlichen Kirchen der Stadt schmücken. Bei Palmquists Gläsern ist eine blau überfangene farblose Glasscheibe mit einer Schablone abgeklebt und gesandstrahlt. An den nicht abgedeckten Partien ist so die blaue Farbschicht entfernt. Die entstandenen Vertiefungen sind mit rot-braunem Glaspulver gefüllt, das mit dem Auftempern verschmilzt. Die Platte ist dann mit der Glasmacherpfeife aufgenommen und zumeist zu einer Schale geformt. Palmqusit entwarf für Orrefors nicht nur solche Graal-Unikate, sondern auch Gebrauchsglas. Berühmt sind seine Fuga-Schalen, maschinenproduziert in einer für die 1950er Jahren innovativen Zentrifugal-Technik. Seit dem Ende der 1950er Jahre entstanden auch geblasene Würfelobjekte mit eingestochenen Luftblasen und Farbstreifen.

Ingeborg Lundin (geb. 1921 in Växjö, Schweden – 1992) wird immer wieder als erste Frau genannt, die für Orrefors Entwürfe gefertigte. Soweit es eine Festanstellung angeht, Lundin war von 1947 bis 1971 bei Orrefors, stimmt das auch. Vor ihr hat die Zeichenlehrerin und Keramikerin Eva-Henrietta Jancke-Björk bereits 1917 als freie Mitarbeiterin für Orrefors Gläser entworfen. Auch wenn die Entwürfe im Schwedischen Glas lange Zeit ganz überwiegend von Männern kamen, gab es in diesem Metier neben den beiden genannten weitere bedeutende Frauen. Anzuführen sind insbesondere Tyra Lundgren (1897–1979), die von 1922 an für Firmen wie Moser in Karlsbad, Venini, Riihimäki, Kosta und Reijmyre Gläser entwarf, und Monica Bratt (1913–1958), die von 1938 bis zu ihrem Tod die künstlerische Leiterin der Glashütte in Reijmyre war.

Wie alle ihre Gestalterkollegen entwarf Lundin für Orrefors sowohl Kunstgläser als auch geschnittene Gläser und Gebrauchsglas. Mit ihren von poetischem Surrealismus geprägten frühen Schnittentwürfen eröffnete sie diesem für Orrefors so bedeutenden Medium den Weg zu einem zeitgemäßen Neubeginn. Eine ihrer bedeutendsten Arbeiten im Gebrauchsglas ist die Vase „Der Apfel“ von 1955, die mit ihrer schlichten Eleganz und funktionellen Einfachheit mehrfach international ausgezeichnet zu einer Ikone skandinavischen Designs wurde. Im Bereich des Kunstglases lieferte Lundin Entwürfe für die Expo-Serie, in der bei Orrefors von verschiedenen Gestaltern in unterschiedlichen Techniken gefertigte Arbeiten für Ausstellungen, Experimente und Kundenaufträge zusammengefasst sind. In den 1950er Jahren setzte sie die Ariel-Serie fort, die bereits in den 1930er Jahren von Vicke Lindstrand und Edwin Öhrström entwickelt worden war. Die Ariel-Gläser sind eine Variante der Graal-Technik. Bei ihnen sind die Materialabtragungen am Rohling so tief, dass beim späteren Überstechen mit farblosem Glas durch nicht entweichende Luft große Blasen entstehen, die gezielt als ein dominanter Teil der Gestaltung genutzt werden. Benannt sind sie sinnigerweise nach Shakespeares Luftgeist Ariel aus seinem letzten Theaterstück „Der Sturm“. Typisch sind geometrische Muster, aber auch figürliche Darstellungen kommen häufig vor.

Die großen Erfolge seit den 1920er Jahren hatten die schwedische Glasindustrie enorm wachsen lassen, insbesondere in Småland, wo zahlreiche Hütten das „Glasreich“ bilden. Trotz der herausragenden Qualität hat das schwedische Glas schon seit den 1960er Jahren am Weltmarkt zu kämpfen. Es kam immer wieder zu Schließungen und Zusammenlegungen von Glashütten, die immer größere Unternehmen entstehen ließen. Die Glashütten Kosta, Boda und Åfors schlossen sich zu Kosta Boda zusammen, zur zeitweilig fünftgrößten Glasmanufaktur der Welt mit etwa 1000 Mitarbeitern. 1989 wurde Kosta Boda von Orrefors übernommen, das beide Marken mit eigenständigen Programmen weiterbestehen ließ. Seit 2005 sind sie Teil der New Wave Group, die unter Weiterführung der Markennamen in immer kürzeren Abständen Personal entließ, Produktionen zusammenlegte und ganze Standorte schloss. 2012 wurden auch die Öfen der großen Glashütte in Orrefors still gelegt. Der Konzern betreibt seitdem im Glasreich nur noch die Kosta-Hütte. Herausragendes Design und beste Fertigungstechniken können die hohen Kosten nicht mehr ausgleichen. Große Teile des Sortiments lässt man im Ausland produzieren.
Uwe Claassen

Achilles-Stiftung