Harvey K. Littleton (geb. 1922 in Corning, NY, USA – 2013) steht mit seinen Ideen, der Hartnäckigkeit und Findigkeit, sie umzusetzen, und seinen Fähigkeiten, andere Menschen für diese Ideen zu begeistern, ganz am Anfang der internationalen Studioglasbewegung. Seine ehemalige Schülerin Joan Falconer Byrd hat dieses Leben und Arbeiten rund ums Glas 2011 in einem Buch dokumentiert. Der Vater, Jesse T. Littleton, war promovierter Physiker und arbeitete seit 1913 für Corning Glass Works in der damals neu begründeten Forschungsabteilung. Das Unternehmen ist einer der größten Glaskonzerne weltweit. Littleton Senior nahm seine vier Kinder samstags häufig mit in den Betrieb, wo sie die Labore kennenlernten und zahlreiche Möglichkeiten hatten, den damals noch von händischer Teamarbeit geprägten manufakturmäßigen Produktionsprozess zu sehen. Auch zu Hause war Glas ein tägliches Thema, im Gespräch oder wenn seine Frau die erste war, die das ursprünglich für Batteriegehäuse genutzte Pyrexglas als Kochgeschirr ausprobierte. Harvey Littleton entwickelte ein Interesse an Kunst und belegte neben dem Besuch der High School Kurse für Zeichnen und Skulptur. Ein 1939 begonnenes Physikstudium brach er bald ab, weil er etwas mit den Händen machen wollte. Littleton wechselte zur Kunst, wo er erstmals mit der Arbeit mit Ton und Keramik in Berührung kam. Eine daraus resultierende Familienkrise wurde durch den Kompromiss gelöst, dass er 1941 ein Industriedesign-Studium in Ann Arbor aufnahm. Parallel belegte er Keramikkurse und arbeitete in den Semesterferien im Vycor-Multiform-Versuchslabor der Corning Glaswerke als Formenbauer. Hier setzte er einen nach antiken Vorbildern aus Ton selbst geformten weiblichen Torso in Glas um. William Warmus, ehemaliger Kurator am Corning Museum of Glass, sieht in dieser Skulptur den Beginn des zeitgenössischen Glases, wenn es bis zum Durchbruch auch noch etwas dauern sollte. Der Kriegsdienst unterbrach die Ausbildung von Littleton. Beim Warten auf den Rücktransport in die USA besuchte er 1945 für drei Monate in England die Brighton School of Art und formte hier weitere Torsi aus Ton, die er mit nach Hause nahm. Einen davon konnte er erneut bei Corning in vier Exemplaren in Glas umsetzen. Sein Vater war begeistert von den sich hier abzeichnenden Möglichkeiten für die neue Multiform-Technik und riet dem Sohn, nach dem Ende seines Industriedesign-Studiums Corning die Gründung eines Experimental-Studios vorzuschlagen. Der Plan wurde 1947 abgelehnt. Littleton hatte an ein Studio gedacht, das allen Abteilungen des Konzerns für künstlerische Experimente offen stünde, um frische Ideen für die Produktion zu entwickeln. Der Vorschlag wurde abgewiesen, weil der damaligen Auffassung nach, so Littleton in seiner späteren Erinnerung, die Entwürfe vom Reißbrett zu kommen hätten. Für ihn wurde demgegenüber die Form in der Hand von Künstlern aus dem Material heraus geboren. Zu diesem Zeitpunkt war es für Littleton wegen des großen Aufwandes noch unvorstellbar, dass Künstler unabhängig von der Industrie mit heißem Glas arbeiten könnten. Aufgrund seiner Auffassung, dass der Gestalter das Material formen müsse, wandte er sich jetzt vom Glas ab. Er wurde in Ann Arbor Partner in einem Designstudio, begann an der Cranbrook Academy Keramik zu studieren und arbeitete als Keramiklehrer an der Museumsschule des Toledo Museum of Art. 1951 schloss er sein Studium ab und wurde sogleich in den Lehrkörper der Abteilung Kunst und Kunsterziehung der University of Wisconsin in Madison aufgenommen. Als Keramiker war Littleton mit funktionellem Steingut sehr erfolgreich. Das Glas blieb dennoch in seinem Hinterkopf. Als er 1957 mit einem Forschungsstipendium nach Europa reiste, um den islamischen Einfluss auf die zeitgenössische Keramik zu erforschen, hatte er vorher Informationen über kleinste Glasöfen eingeholt. Dabei war er auf Jean Sala in Paris verwiesen worden. Sala (1895–1976) hatte in Montparnasse isoliert und nahezu unbeachtet allein einen kleinen Glasschmelzofen betrieben und Vasen und Schalen hergestellt. Als Littleton ihn besuchte, arbeitete er nicht mehr am Ofen. Er zeigte seinem Gast aber die Werkstatt. Für Littleton war das eine Offenbarung: Er erkannte, dass es möglich war, unabhängig von der Industrie mit heißem Glas zu arbeiten. Seine Motivation, hier einzusteigen, wurde noch bestärkt, als er in Neapel kleine Glasmanufakturen entdeckte und in Venedig wohl sämtliche Glasfabriken besuchte. Dabei interessierten ihn insbesondere kleine Schmelzöfen, die für Vorführungen für Touristen außerhalb der eigentlichen Produktion aufgestellt waren. Er kaufte Glasmacherpfeifen und weiteres Arbeitsgerät. Nach Hause zurückgekehrt unternahm Littleton unverzüglich Schmelzversuche in seinem Keramikofen und blies einige Glaskugeln. Ab 1959 begann er, eigene Schmelzöfen zu entwickeln. Als Hochschullehrer dachte er auch sofort daran, eine Glasabteilung an seiner Hochschule zu etablieren. Für einen Versuchsworkshop warb er Fördermittel ein und fand aufgrund seiner alten Kontakte Unterstützung in Toledo: Otto Wittmann, Direktor des Toledo Museum of Art, stellte eine Museumsgarage zur Verfügung, in der Littleton im März 1962 seinen Ofen aufbaute. Ein weiterer alter Bekannter war Dominick Labino, den er einst beim wöchentlichen Poker kennengelernt hatte. Labino war ein findiger Techniker, der zahlreiche glastechnische Patente hielt. Er sorgte für das Glasgemenge. Nachdem ein erster Schmelzversuch misslungen war, baute Labino den Ofen um und ersetzte den Glassatz durch Glaspallets, die aufgrund ihres geringen Schmelzpunkts als Zwischenprodukt in der Glasfaserindustrie zur Herstellung von Dämmstoffen eingesetzt wurden. Nun kam der Workshop in Gang. Zum Vorteil geriet auch, dass mit Harvey Leafgreen ein pensionierter Glasbläsermeister aufmerksam geworden war und aus Interesse vorbeigeschaut hatte. Er demonstrierte den zehn Teilnehmern spontan die grundlegenden Arbeitstechniken. Aus den Erfahrungen dieses Workshops heraus wurde er im Juni unter Vermeidung der Anlaufprobleme erfolgreich wiederholt. Diese beiden Workshops gelten als Geburtsstunde der amerikanischen Studioglasbewegung. Littleton hatte hier seinem amerikanischen Umfeld gezeigt, dass es möglich ist, einen Glasschmelzofen zu bauen, der in einem Studio von Einzelpersonen betrieben werden kann. Weiter konnte er beweisen, dass es für moderne Kunsthandwerker möglich ist, die dafür nötigen grundlegenden Arbeitstechniken zu erlernen. Und er weckte die Neugier auf die im Material Glas liegenden ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten, die jenseits der Begrenzungen industrieller Produktion liegen. In der großen Begeisterung der Anfangsjahre war gelegentlich untergegangen, dass Littleton die Technik nicht erfunden, sondern aus Europa mitgebracht hatte. Und es geriet bisweilen in den Hintergrund, dass schon vorher sowohl in den USA als auch in Europa die starren Grenzen zwischen Kunst, Design und Handwerk auch im Glas aufzuweichen begannen. Abgesehen von seinem eigenen künstlerischen Werk ist „Littletons entscheidende historische Leistung […] die Bindung der Glaskunst an die Colleges und Universitäten in den Vereinigten Staaten“, wie Helmut Ricke schrieb. Aus den Toledo Workshops entstand ein von ihm geleitetes Ausbildungsprogramm an der University of Wisconsin. Viele seiner Studenten gründeten an anderen Einrichtungen neue Glasprogramme, so dass das Potential vieler kreativer Köpfe geweckt wurde und eine breite Bewegung entstand, die erst die USA erfasste und dann auf die ganze Welt übergriff. Bevor Littleton 1963 seinen ersten universitären Glaskurs anbot, besuchte er mit einem Stipendium noch einmal Europa, um sich mit den hiesigen Ausbildungsmöglichkeiten für Glasbläser vertraut zu machen. Die Ergebnisse waren für ihn enttäuschend, weil er keine Heißglasausbildung im künstlerischen Bereich fand. Doch sah er in Zwiesel im Bayerischen Wald eine „gequetschte“, der vorherrschenden Ästhetik sich widersetzende Vase von Erwin Eisch. Er war begeistert und besuchte Eisch umgehend an seinem nah gelegenen Wohnort Frauenau. Trotz Schwierigkeiten in der Verständigung aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse war ihm sofort klar, dass er hier jemandem gegenüberstand, der große Bedeutung für das hatte, was er selbst tun wollte. Es entstand eine lange, sich gegenseitig befruchtende Freundschaft. In den ersten Jahren, einer Zeit der Aneignung technischer Fertigkeiten und des Experimentierens, war Littletons Arbeit von Eisch beeinflusst. Meist schuf er Objekte, die vom Gefäß ausgingen. Manche sind noch funktional orientiert, während andere, vor allem aus der „Implosion/Explosion“-Serie, jede Funktionalität überwinden. Kritik an nicht ausgereifter Technik konterte er bisweilen polemisch. „Technique is cheap“ – „Technik ist billig“, ist eine seiner schärfsten Repliken, die er gegenüber der Kuratorin Susanne Frantz leicht relativierte: Die Idee sei „teuer“ und für den Künstler die größere Herausforderung. „Nicht die Herstellungsweise ist wichtig, sondern das, was du machst“. Ende der 1960er Jahre löste sich Littleton vom Gefäß. Er entwickelte ein skulpturales Werk, das in verschiedenen Werkgruppen ausgeprägt ist. Im Mittelpunkt steht dabei die Erforschung der Wirkung von Farbe und Bewegung. In der „Eye-Form“-Serie spielte Littleton mit den lichtbrechenden Eigenschaften von Glas. Einfarbige oder mit farbigen Schichten versehene dickwandige Schalen sind dabei ineinander gelegt. Je nach Betrachtungswinkel sind bestimmte Farben mal sichtbar und mal nicht. Hinzu kommt die Mischwirkung der hintereinander liegenden Farben. In verschiedenen Graden aufgerichtet und paarweise angeordnet ergeben die Schalen die namensgebende Wirkung von Augen. In einer zweiten Gruppe verarbeitete Littleton kommerziell gefertigtes Flachglas bzw. Glasbarren. Er schnitt das Glas zu, verformte es im Brennofen durch Absenken und montierte die einzelnen Elemente oft mit Messingstäben zu Arbeiten, die den Charakter von Bewegungsstudien tragen. Am bekanntesten, geradezu zu einem Leitmotiv geworden sind aber die Skulpturen, für die Littleton die grundlegendsten Eigenschaften von heißem Glas, nämlich biegsam und ausziehbar zu sein, unter größten körperlichen Kraftanstrengungen in vorher nicht gekannten Dimensionen einsetzte und zum eigentlichen Thema machte. Er schwenkte große, schwere Glasposten an der Glasmacherpfeife hin und her, zog sie zu Stäben oder Röhren, die er wieder durch Schwenken bog, zu seinen „Loops“ rundete oder faltete. Die spontan, durch kontrollierten Zufall entstandenen höchst dynamischen Formen schnitt er zum Teil auf, polierte die Schnittflächen und montierte sie auf Sockeln als „ein untrügliches Zeichen dessen, dass er seine Arbeiten als Kunstobjekte verstanden wissen wollte“, wie Clementine Schack von Wittenau schrieb. Waren sie zunächst farblos oder einfarbig, entdeckte er mit der Zeit Farben, die mit seinem Grundglas kompatibel waren und schloss in der Folge farbige Fäden in die Skulpturen ein. Erst nach Aufgabe der Lehrtätigkeit 1977 und einem Umzug nach Spruce Pine 1977 begann Littleton mit Kugler-Farben zu arbeiten und so seine Farbpalette enorm zu erweitern. Nun entstanden Arbeiten, deren dynamische Form- und Linienführung sowie die geradezu feuerwerkartige Farbgebung durch polierte Schnitte, Abtrennungen und neue Zuordnungen der Einzelteile gebrochen ist. Es sind Höhepunkte in seinem Werk. Obwohl Littleton von Gary Beecham als Assistent unterstützt wurde, musste er zum Ende der 1980er Jahre die Arbeit mit heißem Glas aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Er verlegte sich nun ganz auf die grafische Technik der Vitreografie, die er bereits in den 1970er Jahren für sich entdeckt hatte. Uwe Claassen